Seit dieser Artikel Ende September erschienen ist, haben sich die Befürchtungen leider bestätigt, auch nach der US-Wahl bleibt der Text wichtig (zunächst erschienen im deutschen ZMAG.DE).
Michael Schwartz, Professor of Sociology at the State University of New York at Stony Brook in ZMAG (Englischer Originalartikel vom 25.9.2004)

Die neue U.S. Strategie nach dem Kampf um Najaf

Seit dem Ende des Kampfes um Najaf gab es eine Serie von neuen Gewaltausbrüchen und sich wiedersprechende Aussagen seitens aller Beteiligten des irakischen Konflikts. In diesem Wirrwarr versteckt sich eine völlig neue amerikanische militärisch-politische Strategie, die weitere Verwüstungen an den irakischen Städten anzurichten droht und zugleich eine dramatische Veränderung der Kräfteverhältnisse mit sich bringt. Wenn die USA Erfolg haben, steht gleich nach der Wahl im November eine gewaltige militärische Offensive in Aussicht, die möglicherweise um ein vielfaches brutaler sein wird als das, was wir bisher gesehen haben. Wenn die USA keinen Erfolg haben, könnte dies die Sorte von öffentlichem Imageverlust mit sich bringen, die Bushs Chancen auf eine Wiederwahl ruinieren und/oder zu einem erneuten Wechsel der amerikanischen politisch-militärischen Strategie führen.

Wer gewann in Najaf?

Die kurze Antwort heißt Ali al-Sistani, der sich wieder als herausragender irakischer Führer herausstellte, in dem er die Krise löste ohne die Zerstörung des Schreins Imam Alis oder die Tötung der besetzenden Al-Mahdi-Soldaten zu bewirken. Al-Sistani hat aber Schwierigkeiten seine führende Rolle zu festigen, weil die USA die versprochenen Mittel zum Wiederaufbau nicht geliefert haben. Ohne diese Hilfe von außen ist es für al-Sistani umöglich wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. Al-Sistanis Strategie besteht darin, die Shias zu bitten auf sofortige Forderungen zu verzichten, da die Aussicht besteht, bei der Wahl im Januar die politische Vorherrschaft zu erlangen. Die anhaltende Gewalt im Land ist jedoch eine Gefahr für die Wahlen und somit auch für al-Sistanis Glaubwürdigkeit.

Hat Muqtada al Sadr in Najaf gewonnen oder verloren? Vor al-Sistanis Intervention waren die Sadristen mit einer schwierigen Wahl konfrontiert. Sie hätten bis zum Tode weiterkämpfen können. Dies wäre ein großer politischer Sieg gewesen, der verstärkt Unterstützung innerhalb und außerhalb des Landes hervorgerufen und die Sadristen zur stärksten Kraft unter den irakischen Wiederstandskämpfern gemacht hätte. Dies hätte aber auch bedeutet, das Leben der treuesten und erfahrensten Aktivisten zu opfern. Oder sie hätten sich vom Schrein zurückziehen können. Dies hätte ihre Glaubwürdigkeit als Revolutionäre zunichte gemacht. Sie hätten dann ihre Waffen verloren und wären in Mißkredit geraten.

Es sah so aus, als ob sie den Märtyrertod sterben würden, aber al-Sistani hat ihnen den Sieg entrissen und zugleich das Leben gerettet. Dies hat ihre Organisation geschützt, sogar verstärkt. Ihre politische Vormacht wurde aber von al-Sistani übernommen.

Haben die USA in Najaf gewonnen oder verloren? Die USA haben in zweierlei Hinsicht verloren. Sie haben sich den Irakern weiter entfremdet, so daß weder die USA noch die Marionettenregierung irgendwelche Glaubwürdigkeit beim durchschnittlichen Iraker genießen. Sie haben auch die Gelegenheit verpaßt, einen zerschlagenden militärischen Sieg zu erringen, was für Bush möglicherweise die November-Wahlen gewonnen hätte. Ein solcher Sieg hätte die militanten Shia eventuell so weit eingeschüchtert, daß die USA ungehindert ein neues Programm für die Shia Regionen des Landes hätten entwickeln und umsetzen können.

Aber die USA haben durch die Intervention al-Sistanis auch zwei Dinge gewonnen. Erstens wurden sie von einer schrecklichen Wahl befreit: sich entweder zurückzuziehen ohne al Sadr zu verdrängen (was für al Sadr ein gewaltiger Sieg gewesen wäre und zu befreiten Gebieten quer durch den Südirak geführt hätte); oder den Schrein zu zerstören (wodurch die USA in der islamischen Welt eine Empörung ausgelöst hätten, die einen sofortigen Aufstand im ganzen Land hätte entfachen können). So aber bekamen die USA die Chance eine andere Strategie auszuprobieren, was ohne al-Sistanis Intervention nicht der Fall gewesen wäre.

Zweitens lieferte al-Sistanis Intervention das Muster für eine neue amerikanische Strategie, die die USA kurz darauf anwandte. Sein ausgehandeltes Abkommen ermöglichte einen geordneten Ablauf, bei dem die irakische Polizei (ausgebildet und geleitet von den USA) offiziell die Aufsicht über Alt-Najaf übernahm. Ihre Autorität wird durch die Legitimität al-Sistanis garantiert und deswegen werden sie von militanten Sadristen oder anderen Aufständischen nicht herausgefordert (obwohl die Polizei selber womöglich den USA nicht treu bleiben werden - ein Phänomen, daß man anderswo schon beobachtet hat). Für die USA ergab sich dadurch die Vision von parallelen Entwicklungen in anderen Städten: eine Allianz mit "Gemäßigten", die die irakische Polizei legitimierte und zugleich die militanten Kräfte aus dem öffentlichem Leben der Stadt verdrängte.

Die neue U.S. Strategie

Die neue U.S. Strategie zielt also auf die Städte ab, wo Guerrillas und ihre geistliche Führung dominieren, insbesondere in Falluja, Samarra, Tal Afar und Sadr City (obwohl es mehrere andere gibt, von denen man in letzter Zeit in den Nachrichten nichts hört). Die amerikanische Methode besteht darin, mit den Geistlichen zu verhandeln und für die Beendung des Aufstands und eventuelle übergabe der Guerrillakämpfer an die USA eine umfangreiche Rekonstruktionshilfe anzubieten. (Sie nennen dies mit den Gemäßigten verhandeln, so daß diese sich von den Militanten abspalten.)

Wenn sie sich einigen können, marschieren die USA in die Stadt und verhaften mindestens einige Guerrillas, wobei sich die Amerikaner auf Spitzel verlassen, um Guerrillas zu identifizieren. Wenn die Guerrillas sich wehren, vernichten die Amerikaner sowohl sie selbst als auch ihre Verstecke. Wenn die Guerrillas sich unter die Bevölkerung mischen, nehmen die irakische Polizei und die irakische Nationalgarde Stellung innerhalb der Stadt, um die Herrschaft einer neu etablierten Lokalregierung durchzusetzen. Amerikanische Truppen außerhalb der Stadt bleiben einsatzbereit, falls die Polizei oder die Nationalgarde angegriffen werden.

Um ein Abkommen zu erzwingen, drohen die USA sowohl mit ökonomischen Sanktionen als auch mit militärischen Angriffen auf die Stadt als Ganzes. Ein Teil des Plans besteht aus brutalen Luftangriffen, die einzelne Gebäude oder ganze Häuserblöcke vernichten können. Das Ziel ist, Einwohner und Führer zu überzeugen, daß der Preis des Widerstands einfach zu hoch ist. Die zugrundeliegende Annahme ist, daß sich die "Gemäßigten" schließlich eher für Verhandlungen entscheiden werden als zuzusehen wie ihr Stadt zerstört wird. Wie ein Marineoffizier in Falluja dem Washington Post Korrespondent Rajiv Chadrasekaran erzählte, heißt das Ziel "die Stadt zu spalten, um die guten Menschen auf die eine Seite und die Terroristen auf die andere zu bringen."

Der neue Plan soll zwei Ziele erreichen. Erstens erhoffen sich die USA die Anzahl der Angriffe auf US Konvois und Stützpunkte außerhalb der Städte drastisch zu verringern. Diese Angriffe werden in den Städten geplant, die eingesetzten Waffen sind dort gelagert, und die Guerrillas sind durch ihre Identität als Zivilist oder Mitglied der örtlichen Gemeinschaft vor Entdeckung geschützt. Indem man die Guerrillas demobilisiert, verhaftet oder tötet verspricht der Plan, eine drastische Reduzierung der direkten Angiffe auf US Truppen zu erreichen.

Zweitens hoffen die Amerikaner, die Kontrolle über das tägliche Leben zu übernehmen, wenn die Basis für Recht und Ordnung innerhalb der Stadt nicht mehr von den Rebellen sondern von der Polizei gewahrt wird. Zudem wollen die USA statt der gegenwärtigen den Amerikanern feindlich gesinnten geistlichen Führung eine pro-amerikanische politische Führung etablieren. Dies wird den USA erlauben, den Wahlprozess im Januar zu kontrollieren und bei der Wahl eine mit der US Politik übereinstimmende Legislative zu garantieren.

Das Unterfangen drängt sehr, weil die gegenwärtige amerikanische Strategie im Irak auf den im Januar geplanten Wahlen aufbaut. Al-Sistani hat deutlich gemacht, daß er nicht länger als bis Januar auf die Wahlen warten werde (er hat schon eingewilligt, sechs Monaten über seinen ursprünglichen Termin hinaus zu warten). Eine weitere Verzögerung könnte ihn soweit provozieren, daß er viel schärferen Protest initiert, als das was er bisher gebilligt hat. Aber Wahlen, die die Gebiete ausschließen, die den Rebellen unterstehen, werden nochmals eine Regierung ohne jede Legitimität produzieren (einschließlich eines möglichen Boykotts seitens al-Sistanis). Andererseits können die USA es auch nicht riskieren, diese Städte an den Wahlen teilnehmen zu lassen, ohne sie zurückzuerobern. Sonst würden die Städte radikale Vertreter schicken, um zu verlangen, daß die Legislative einen amerikanischen Rückzug fordert (eine Förderung, die mehr als 90% der Bevölkerung unterstützen würde). Die von den Besatzungsmächten durchgeführten neusten Umfragen zeigen, daß es für eine andauernde amerikanische Präsenz weniger als 10% Unterstützung gibt.

Daher müssen die USA rasch (d.h. innerhalb von vier Monaten) die Kontrolle über diese befreite Gebiete wieder gewinnen und diese Kontrolle muß ausreichend friedlich vollzogen werden, um den Anschein fairer Wahlen zu erlauben. Dies erklärt, warum die Gemäßigten im Mittelpunkt der neuen amerikanischen Strategie stehen. Besatzung durch amerikanische Truppen wirkt gegen amerikanische Interessen - es erzeugt einen stärkeren und noch entschlosseneren Widerstand unter der Bevölkerung. (Gegen diese Art von Widerstand auch nur eine einzige Stadt zu pazifizieren, braucht zehntausende amerikanische Soldaten, um alle Stadtviertel zu patrouillieren - weit mehr als die Anzahl, die den amerikanischen Streitkräften zur Verfügung stehen.) Die irakische Polizei und Nationalgarde sind dafür berüchtigt, daß sie entweder kapitulieren oder zu den Guerrilllas überlaufen. Die USA hoffen trotzdem, daß die irakische Polizei und Nationalgarde Ordnung wahren können, wenn sie eine angesehene örtliche Führung (wie etwa al-Sistani in Najaf) ihre Anwesenheit unterstützt und die Guerrillas zum Schweigen bringt.

Funktioniert der neue amerikanische Plan?

Es wurde in den Medien genug über vier Städte berichtet, um sich eine Vorstellung von dem zu machen, was passiert und eine Prognose für die neue Strategie zu stellen.

Falluja: Die USA haben die religiöse Führung in Falluja getroffen (die erste Geste offizieller Anerkennung), und haben mehrere Millionen Dollar zum Wiedraufbau der Infrastruktur angeboten, die durch die Angriffe im April praktisch vernichtet wurde. Das Angebot unterstand folgenden Bedingungen: 1. daß, die Guerrillas entwaffnet und nicht unterstützt werden 2. daß, den USA erlaubt wird, in der Stadt Patrouillen aufzustellen 3. daß die religiösen Führer der Zentralregierung die Treue schwören. Es gab keine nennenswerten Verhandlungen, da die religiösen Führer alle drei Bedingungen ablehnten.

Sofort nach dem Zusammenbruch der Nicht-Verhandlungen begannen die USA mit fast täglichen Bombardierungen verschiedener Viertel Fallujas. Die offizielle Erklärung lautet, daß man "sichere Häuser" bombardiert, d.h. solche, die von Terroristen benutzt werden, die mit Abu Musab al Zarqawi assoziiert werden (und daß während der Angriffe keine anderen Personen anwesend sind). Aber die Krankenhäuser berichten täglich, daß die große Mehrheit der Opfer Zivilisten sind. Es ist für jeden außer der amerikanischen Öffentlichkeit deutlich, daß die Angriffe darauf abzielen, die Bevölkerung Fallujas von ihrer Unterstützung für die Rebellion abzubringen. Um dem ganzen ein weiteres Element der Bedrohung hinzuzufügen haben die USA wiederholt angekündigt, daß sie die Stadt bald erneut einnehmen würden. Während der zweiten Septemberwoche wurde den Bewohnern bestimmter Gebiete sogar per Lautsprecher mitgeteilt, daß sie diese evakuieren sollten, da ein Angriff bevorstehe. Das war ein Bluff. Amerikanische Militärsprecher haben Journalisten aus den USA gegenüber zugegeben, daß sie die Präsidentsschaftswahl in den Vereinigten Staaten abwarten werden.

Wir können davon ausgehen, daß die Bombardierungen bis November anhalten werden und ein Großangriff auf die Stadt folgen wird. Ein Angriff, der weit brutaler sein wird als die vorangegangenen Angriffe auf Falluja und Najaf (es sei denn, die Strategie würde in der Zwischenzeit wieder verändert). Unterdessen gibt es anhaltende Bemühungen in neue Verhandlungen einzutreten, ohne daß eine der beiden Seiten ihre Position ändert.

Sadr City: Die Allawi Administration und die religiösen Führer von Sadr City (die alle mit Muqtada al Sadr in Verbindung gebracht werden) hatten versuchsweise eine Einigung erzielt, die US Truppen verboten hätte, in dem großen Shia Slum im nordöstlichen Teil Baghdads Patrouillen aufzustellen. Die Sadristen ihrerseits hätten Angriffe auf US Stützpunkte oder Konvois außerhalb Sadr Citys verzichtet. (Dies war ein bemerkenswertes Zugeständnis der Sadristen, da ihre Strategie die Amerikaner aus dem Irak zu vertreiben darauf basiert, ständig Angriffe gegen US Stützpunkte und Konvois vorzunehmen, um die amerikanischen Ressourcen zu reduzieren). Darüberhinaus hatte die Allawi Administration versprochen mit einer Vielzahl von Aufbauprojekten innerhalb Sadr Citys zu beginnen. Dies wäre das erste Mal, daß ernsthafte Bemühungen unternommen würden, um die durch 18 Monate Krieg entstandenen Schäden zu beheben.

Das US Kommando legte Veto gegen die Einigung ein. Während damit ein Ziel (eine Verminderung der Guerilla-Angriffe auf US Stützpunkte und Konvois) erreicht worden wäre, sah man (richtigerweise) deutlich, daß die Einigung dem Erreichen des zweiten Zieles abträglich war, da die Mahdi Armee und seine religiösen Verbündeten ungehindert die politische Kontrolle über Sadr City behalten hätten. (Das amerikanische Militär erklärte die Ablehnung damit, daß die Einigung der Al Mahdi Miliz erlaubt hätte sich nach der "schrecklichen Niederlage" in Najaf zu rekonstitutieren, aber allen Indizien nach hat der Kampf in Najaf die Sadristen in Baghdad überhaupt nicht geschwächt.)

An dem Tag nach dem die Einigung abgelehnt worden war, begannen die USA wieder Patrouillen einzusetzen und erneut in Sadr City zu kämpfen. Sie versuchten dabei genug Chaos und Zerstörung anzurichten, um die Gemäßigten zurück an den Verhandlungstisch zu bringen. Sie erkannten jedoch bald, daß diese Patrouillen hohe Todesopfer forderten ohne zwischen die religiösen Führer und die Guerrillas einen Keil zu treiben. (In Najaf erreichte die lange Belagerung, daß den Sadristen, die keine Bewohner Najafs waren, grosse Antipathie entgegengebracht wurde. Viele Bewohner sahen sie als Eindringlinge, die den Angriff auf die Stadt provozierten. In Sadr City sind die Guerrillas Familienmitglieder und angesehene Nachbarn, die die Kriminalitätsrate niedrig hielten und die Amerikaner für Monate von der Stadt fernhielten. Daher führten amerikanische Anschläge eher dazu, die Unterstützung für Al Mahdi Angehörige zu verstärken, denn diesen wurde zugute gehalten, daß sie die Amerikaner daran hinderten die Kontrolle zu übernehmen, und allgemein die Bevölkerung zu unterdrücken, indem sie sich mit Gewalt Zugang zu Häusern verschaffen, Bewohner terrorisieren und wahllos Männer, Frauen und sogar Kinder verhaften.)

Nach zwei Wochen Kämpfen und Bombardierungen sind die US Streitkräfte zeitweilig zu den Stützpunkten zurückgekehrt und haben die Kontrolle über Sadr City den Rebellen und ihren religiösen Führern überlassen. Zur Zeit scheint es, als ob sie sich für eine Bombardierungskampagne wie in Falluja entschieden hätten, obwohl die Bombardierungen momentan eher gelegentlich statt regelmäßig stattfinden. Es ist möglich, daß die Tatsache, daß amerikanische Journalisten Zugang zu Sadr City haben und über das Blutbad berichten können, abschreckend wirkt.

Samarra: Bald nach Beendigung des Kampfes in Najaf sperrten amerikanische Truppen eine wichtige Brücke nach Samarra ab. So erreichten sie eine Wirtschaftsblockade, da auf diese Weise jeder normale Handel unterbrochen wurde. Dies führte im Stadtgebiet sofort zu großem Mangel an Waren und hatte den erhofften Effekt: eine Gruppe religiöser Führer handelten ein Abkommen aus, demzufolge die Brücke wieder für den Verkehr geöffnet wurde und im Gegenzug US Truppen die Stadt ohne Angriffe betreten konnten. Dies war der erste Erfolg der neuen Strategie und eine US Patrouille konnte am 2. September unbehelligt in die Stadt gehen. Sie hielten am Rathaus, um eine neue von der US-gestützte Stadtverwaltung vorzustellen und einzuführen.

Am nächsten Tag verurteilten die Guerrillas das Abkommen und ein Teil der mit den Guerrillas verbundenen lokalen religiösen Führer verkündeten die Formation einer neuen aufständischen Verwaltung nach dem Modell der Verwaltung in Falluja, mit der sie auch formell alliert ist. (Dies ist eine neue Bedrohung für die USA, da koordinierte Zusammenarbeit über befreite Gebiete hinweg bisher nicht bestanden hat und eine große Waffe gegen die Besatzung wäre.)

Durch die zwei rivalisierenden Verwaltungen ist die Situation unsicher. Amerikanische Truppen bewachen das Rathaus (anscheinend trauen sie der irakischen Polizei diese Aufgabe nicht zu während die Guerrillas noch aktiv sind), und sie wurden wenigsten einmal beschossen. Bisher gab es jedoch keine Berichte über einem größeren Kampf, der von einer der beiden Seiten initiert worden wäre. Der Weg aus dieser Sackgasse könnte die Taktik beider Seiten im Hinblick auf andere Städte beeinflussen.

Tal Afar. Die USA beschlossen diesen Ort zur Konfrontation mit den Guerrillas zu nutzen, obwohl er atypisch ist. Die Bewohner sind zumeist Turkmenen und Shias, und er liegt an der Grenze zu Syrien, was ihn zum Mittelpunkt des Handels und des Schmuggels von Waren und Aufständischen macht. Vor dem US Angriff im frühen September war es nur für ungefähr einen Monat ein "no go" Gebiet für die amerikanischen Truppen. Daher ist die Form und die Unterstützung des Aufstands schwer einzuschätzen. Bedeutsamer ist, daß während klar ist, daß viele Shia Turkmenen die Guerrillas unterstützen, die US Armee hier darauf beharrt (und einige unabhängige Beobachter ihnen da zustimmen), viele, wenn auch nicht alle der Aufständischen seien Sunni Araber. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, würde es eine noch nie dagewesene Allianz zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen im Irak darstellen. Eine Allianz, die ein Vorbote eines stärkeren und geeinten Aufstandes in den kommenden Monate sein könnte.

Es gab kurze Verhandlungen mit der turkmenischen Führung der Stadt, aber es wurden keine formellen Verhandlungsangebote gemacht. Die USA begannen dann mit einer massiven Bombardierungskampagne, die viel heftiger war als an irgendeinem anderen Ort (außer vielleicht in Najaf auf dem Höhepunkt der Belagerung). Obwohl selbst Gesundheitsbehörden- und Krankenhaussprecher die Bombardierung verurteilten und von Hunderten von zivilen Opfern berichteten, behauptete das amerikanische Militär, daß alle Toten und Verletzte Rebellen seien, eine große Anzahl Frauen und Kinder eingeschlossen. ( Ein Journalist zitierte einen Informanden, der amerikanischen Soldaten erzählte, jede Person einer bestimmten Gemeinde sei ein Aufständischer. Dies könnte ein vorgeschobener Grund für ihre absurden Behauptungen sein.) Die flächendeckende Bombardierung sowie die Warnungen der Amerikaner, das Gebiet zu evakuieren, führte dazu, daß bis zu 50 000 turkmenische Flüchtlinge die Stadt von 350 000 Einwohnern verließen (unbestätigte Berichte sprechen von der unglaublichen Zahl von 250 000 Flüchtlingen).

Nach der Bombardierung sandten die USA bis zu 2000 Truppen in die Stadt, stießen auf starken Widerstand und kämpften für fünf Tage bis die Rebellen sich auflösten. Die US Truppen und ihre irakischen Verbündeten bewegten sich für einige Tage ungehindert in der Stadt während außerhalb die Proteste gegen die Invasion ihren Höhepunkt erreichte.

Der bedeutsamste Protest kam von der türkischen Regierung, die die USA verurteilte, weil, wie sie sagte, praktisch alle Opfer unschuldige turkmenische Zivilisten gewesen seien. Darüberhinaus habe es nie Angriffe auf amerikanische Truppen von Turkmenen gegeben, die aber ihrerseits dann zum Ziel der meisten Gewaltangriffe wurden. Der türkische Präsident Gul drohte, sein Land von der "Coalition of the Willing" zurückzuziehen, falls die einmarschierende Armee Tal Afar nicht verlassen würde und die Flüchtlinge wieder ihre Häuser beziehen könnten.

Vielleicht zeigte dieser Protest Wirkung, denn die US Truppen zogen tatsächlich ab und die Flüchtlinge wurden aufgerufen zurückzukehren. Aber hierbei könnte es sich auch um eine geplante Strategie handeln, da diese nun pazifizierte Stadt der Kontrolle der irakischen Polizei und der Nationalgarde übergeben wurde.

Es gab glaubwürdige Berichte, daß diese Kampagne eine neue Form einer "ethnischen Säuberung" darstellt, wobei die US Truppen Tal Afar evakuierten, um in der Stadt die Besiedlung und Vorherrschaft durch Kurden zu erleichtern. Diese Berichte behaupten, daß die Polizei, der die USA die Macht übergaben, "pesh merga" seien, also kurdische Miliz, die sich für die kurdische Vorherrschaft im nordwestlichen Teil des Landes einsetzt. Die Grenzstadt Tal Afar, die sich an großen Handelsstrassen befindet, wäre ein großer Gewinn, sollte sie Teil einer autonomen kurdischen Region oder einer unabhängigen kurdischen Republik werden.

Bevor man weiß wie die turkmenische Minderheit der Stadt letztendlich reagiert, ist es zu früh, um zu sagen, die Tal Afar Kampagne sei die erfolgreichste Umsetzung der neuen amerikanische Strategie gewesen. Mit Sicherheit haben die durch den Angriff gemachten Erfahrungen der Turkmenen ihnen jede Sympathie, die sie den Amerikanern möglicherweise entgegenbrachten, genommen. So wurde vielleicht eine Basis für eine noch entschiedenere Rebellion geschaffen, sobald sie wieder ihr Gleichgewicht gefunden haben. Vielleicht sehen sich die Turkmenen auch gezwungen aufzugeben. Ein Ergebnis, daß das Hauptziel der Amerikaner gewesen zu sein scheint.

Wie ist die Prognose?

Die Kampagne in Tal Afar scheint das Vorbild für eine neue Strategie zu sein, aber Tal Afar ist weder Shia noch Sunni. Selbst wenn die Turkmenen sich dem neuen Regime unterordnen, würde ihre Kapitulation nicht bedeuten, daß anderorts ein ähnliches Ergebnis erzielt würde.

Vielversprechender für die amerikanische Strategie ist Samarra, eine typische Sunni Stadt mit einer starken Aufstandsbewegung. Die anfängliche Bereitschaft einiger religiöser Führer unter Androhung wirtschaftlicher Sanktionen zu verhandeln, deutet daraufhin, daß die USA möglicherweise auch anderswo, wo Aufständische regieren, gefügige lokale Führer ausfindig machen und mit ihnen zusammen arbeiten könnten. Das Ergebnis steht natürlich noch offen und wenn der Widerstand die gerade ernannte Führung isolieren und ausschalten kann oder eine dauerhafte Präsenz der USA unhaltbar macht, dann wird diese amerikanische Strategie zu der langen Liste mißlungener amerikanischer Bemühungen zählen, die Widerstandsbewegungen zu pazifizieren. Zur Zeit bietet diese Strategie jedoch die beste Aussicht für die Besatzung ihre Autorität irgendwo wiederherzustellen.

Falluja und Sadr City sind beides typischere Fälle als Samarra und weniger erfolgsversprechend für die Amerikaner. Die anfänglichen Bemühungen einige lokale Führer ausfindig zu machen und mit ihnen zusammenzuarbeiten schlugen fehl, weshalb die Amerikaner Terrormaßnahmen gegen die örtliche Bevölkerung ergriffen. Diese Taktik hat in der Vergangenheit an keinem der beiden Orte zu Erfolg geführt, und es gibt keine Anzeichen, daß die erneuten Maßnahmen das Ziel erreichen werden. Es scheint, als ob die USA die Präsidentschaftswahl abwarten werden, bevor sie eine aggressivere und zerstörerische zweite Phase beginnen, die darauf abzielt, die Bevölkerung zur Unterwerfung zu zwingen.

Der vielleicht größte Erfolg dieser neuen Strategie ist eine Nichtreaktion. Die Verwüstungen und Zerstörungen durch das terror bombing und die Invasion Tal Afars riefen eine starke Reaktion in der Türkei, einige Empörung im Irak und dem Mittleren Osten hervor, aber überhaupt keinen Protest in Europa oder den USA. Die weniger starken, aber trotzdem brutalen Angriffe auf Sadr City und Falluja haben zu fast gar keiner Kritik oder Solidarbekundungen geführt. Dies steht in direktem Kontrast zu dem Kampf im April in Falluja, der weltweit verurteilt wurde, und die Belagerung Najafs, welche die internationale Shia Gemeinde zu mobilisieren drohte.

Was die USA anscheinend erreicht haben, ist, daß die Weltöffentlichkeit der eskalierenden Gewalt gegen irakische Zivilisten apathisch gegenüber steht. Dies bildet, mehr noch als der Erfolg oder Mißerfolg einzelner Kampagnen, möglicherweise den Grundstein für massive Offensiven, die das US Militär für die Zeit unmittelbar nach der Wahl vorzubereiten scheint. Die Welt ist sich bewußt, daß die US Air Force in der Lage ist, selbst eine sehr große Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Dies ist möglich, in dem in großer Anzahl 2000 Pfund Bomben von Maschinen abgeworfen werden, die auf Flugzeugträgern stationiert sind. Die sorgfältig abgewogene Zunahme der Zerstörungskraft der amerikanischen Luftangriffe in den letzten Monaten scheint die lokale und internationale Wut betäubt zu haben; ein Umstand, der eine weitere Eskalation der Gewalt und eine neue Größenordnung an Opferzahlen möglich macht.

Die Aktionen der irakischen Bevölkerung - sowohl die der Aufständischen als auch die der Zivilisten - kann diese Strategie möglicherweise eindämmen bevor sie zu flächendeckenden Bombardierungen und völliger Zerstörung führt. Aber selbst der stärkste irakische Widerstand reicht eventuell nicht aus, um die kommende November Offensive aufzuhalten. Die Irakis brauchen und verdienen die Unterstützung der internationalen Gemeinde. Die beste (und am wenigsten destruktivste) abschreckende Wirkung gegen diesen bevorstehenden Angriff ließe sich erzielen, wenn ein unkontrollierbarer weltweiter Protest angedroht würde für den Fall, daß die USA versuchen sollten, entweder Falluja oder Sadr City völlig zu zerstören.


Übersetzung Fintan und Sylvia Bolton (München)