Kurz vor den Ostermärschen legte Angelika Beer in der Frankfurter Rundschau gegen die Ostermarschierer los.

Peter Strutynski (Uni Kassel FB05/Friedensratschlag) reagierte schnell:


Anhang: Mein Schreiben nebst Stellungnahme an die FR

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Beitrag von Angelika Beer ("Die These von der Militarisierung der EU
ist haltlos", FR, 26.03.2005) kann nicht unwidersprochen bleiben.
Ärgerlich finde ich vor allem, dass die FR einen "Einspruch gegen die
Ostermarsch-Aufrufe der Friedensbewegung" abdruckt, ohne vorher die
Position der Ostermarschierer publiziert zu haben. Verstehen Sie daher
bitte den folgenden Beitrag als die bislang unveröffentlichte
Argumentation, gegen die Angelika Beer polemisieren durfte.

Ich fände es nur recht und billig, wenn Sie das folgende Statement - es
ist im Umfang mit dem Text von Angelika Beer in etwa vergleichbar -
ebenfalls dokumentieren.


Wie Angelika Beer die Militarisierung der EU in ein ziviles Projekt
verwandelt.
Eine Entgegnung aus der Friedensbewegung.

Die in der Verfassung enthaltenen Grundsätze und Regelungen zur Außen-
und Sicherheitspolitik sind von so einschneidender Bedeutung, dass mit
deren Verabschiedung die Europäische Union ein ganz neues Gesicht
bekäme. Die wenigsten Menschen wissen, worum es dabei geht, und die
politisch Verantwortlichen haben bisher absichtsvoll-verschämt mit
solchen Informationen hinter dem Berg gehalten. Angelika Beer hat
immerhin einige Aspekte der Militär-Verfassung benannt - einige auch
nicht -, sie hat sie allerdings bis zur Unkenntlichkeit schön geredet.

Ich nenne nur die wichtigsten Punkte:

(1) Angelika Beer: "Es gibt keine Verpflichtung zur Aufrüstung."

Das Gegenteil ist richtig. Die Verfassung sieht eine allgemeine
Aufrüstungsverpflichtung vor.
In Art. I-41 Abs. 3 heißt es unmissverständlich: "Die Mitgliedstaaten
verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu
verbessern." Zu diesem Zweck wird eine Europäische Rüstungsagentur
eingerichtet (ebd.). Dieser Artikel deckt sich auffällig mit der
bereits im Dezember 2003 vom EU-Gipfel abgenickten "Europäischen
Sicherheitsstrategie (ESS), womit sich die EU eine eigene, der
Nationalen Sicherheitsstrategie der USA vergleichbare Militärdoktrin
gegeben hat. Auch in diesem Papier werden mehr Mittel für die Rüstung
gefordert: "Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen
Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich
den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung
aufgestockt und effektiver genutzt werden."

(2) Angelika Beer: Die europäische "Verteidigungsagentur hat den Auftrag
... militärische Überkapazitäten abzubauen".

Doch zu welchem Zweck? Über die Einrichtung einer europäischen
"Rüstungsagentur" (Pardon: aus kosmetischen Gründen heißt diese Stelle
neuerdings "Verteidigungsagentur") heißt es in Art. I-41, Ziff. 3: "Es
wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der
Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung
(Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist,
den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung
zufördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen
und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und
diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung
einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu
beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der
militärischen Fähigkeiten zu unterstützen."
In Artikel III-311 werden die Aufgaben der Agentur genauer bestimmt. Im
Kern geht es darum, "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der
industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors"
vorzuschlagen und selbst zu ergreifen. Die Befürchtung, hier etabliere
sich so etwas wir eine Kommandozentrale des militärisch-industriellen
Komplexes, ist nicht von der Hand zu weisen.

(3) Angelika Beer: "Bei der Terrorismusbekämpfung setzt die ESS
(Europäische Sicherheitsstrategie, P.S.) auf Aufklärungsarbeit und
Schulung..."

Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Festschreibung von
Kampfeinsätzen in aller Welt, und zwar auch und gerade im Zusammenhang
mit dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus", ist von zentraler
Bedeutung sowohl in der ESS als auch in der Verfassung. Ich verweise auf
Art. III-309, Ziff. 1. Hier werden zunächst die sog.
"Petersberg-Aufgaben" benannt, d.h. die ganze Palette der möglichen
Anlässe für ein militärisches Eingreifen der Europäischen Union
aufgezählt: "Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei
deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel
zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre
Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und
Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des
Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung
einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur
Stabilisierung der Lage nach Konflikten."
Soweit die Petersberg-Aufgaben: Nun heißt es aber weiter in der Verfassung:
"Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus
beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für
Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet."
Mit der Übertragung der "Terrorismusbekämpfung" auf das Aufgabenspektrum
des Militärs verwischt die EU die Grenze zwischen militärischen und
polizeilichen Aufgaben. Die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechern
(und was anderes sind Terroristen?!) waren im modernen
Rechtsstaatsverständnis bislang eine Angelegenheit der Ermittlungs- und
Strafverfolgungsbehörden, also von Polizei und Justiz. Die Streitkräfte
sind dagegen in erster Linie dazu da, auf äußere Bedrohungen zu
reagieren, notfalls auch Kriege zu führen. Diese Zweckbestimmung soll
nun auch für die Bekämpfung des Terrorismus gelten, wobei die EU davon
ausgeht, dass dieser Kampf häufig in "Drittstaaten" ausgetragen wird.
Dies hatte auch schon die ESS im Auge, als sie – eine Meisterleistung
sprachlicher Verdunkelung! - salopp formulierte: "Bei den neuen
Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen."

(4) Angelika Beer schweigt zum Thema "Kerneuropa".

Warum? Die Etablierung eines militarisierten Kerneuropa ist
Kernbestandteil der EU-Verfassung. Auch wenn diese Idee aus der
politischen Diskussion weitgehend verschwunden ist und von Außenminister
Fischer im Frühjahr d.J. offiziell zu Grabe getragen wurde, heißt das
nicht, dass an der Konzeption nicht weiter gebastelt würde. Die
Verfassung sieht jedenfalls sieht ein "Kerneuropa" bzw. ein Europa
verschiedener Geschwindigkeiten durchaus vor. In Artikel I-41, Absatz 6
heißt es z.B.: "Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in
Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf
Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere
Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte
Zusammenarbeit im Rahmen der Union."
Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die
"untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind, gemeinsam auch
festere militärische Strukturen schaffen können. Weiter heißt es:
"Im Rahmen der nach Artikel III-310 erlassenen Europäischen Beschlüsse
kann der Ministerrat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von
Mitgliedstaaten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten
verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen." (Art. III-311)
Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur
Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik
innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht
(mehr) mitmachen wollen, dann werden es eben die Staaten tun, die
"untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind - und den
anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.

(5) Nicht erwähnenswert findet Angelika Beer die Amputation des
Europäischen Parlaments in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik.

Dabei muss die Nichtbeteiligung des Europäischen Parlaments bei
Kriegsentscheidungen als besonders skandalös empfunden werden. Die
Verfassung gesteht dem EU-Parlament lediglich ein Anhörungsrecht zu und
erlegt der Kommission bzw. dem Rat lediglich eine Informationspflicht
auf (Art. I-40, Abs. 6, Art. I-41, Abs. 8). Ein echtes
Mitbestimmungsrecht des Parlaments erwächst weder aus dem einen noch aus
dem anderen. Mit anderen Worten: Über Krieg oder Frieden entscheidet
allein die Exekutive. Was dies beispielsweise für Deutschland bedeutet,
wo das Parlament in letzter Instanz über Militäreinsätze befinden muss,
ist bislang auch von Juristen nicht schlüssig beantwortet worden. Wird
der bundesdeutsche Parlamentsvorbehalt bei einem von der EU
beschlossenen Militäreinsatz ausgehebelt? Stirbt damit noch ein weiteres
Stück Demokratie in Europa?

Angelika Beer erweckt mit ihrem Beitrag den Eindruck, die Europäische
Union entwickle sich in der Kontinuität der letzten 50 Jahre als Zivil-
und Friedensmacht weiter - und die Verfassung würde diese Entwicklung
garantieren. Dem halte ich entgegen: Was die EU stark gemacht hat, war
ihre Konzentration auf wirtschaftliche und strukturpolitische Fragen.
Dieses Pfund, mit dem sich bisher so gut wuchern ließ, ist sie nun dabei
zu verspielen. Die Europäische Union schickt sich an, ein
Aufmarschgebiet für Militärinterventionen in aller Welt zu werden. Dann
aber ist es mit der "Zivilität" der Europäischen Union endgültig vorbei.
Aus all diesen Gründen demonstrierte die Friedensbewegung an Ostern für
ein friedliches und ziviles Europa und damit gegen diesen
Verfassungsvertrag.

Peter Strutynski
Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag
Kassel